|
7.1 Fallbeispiel Melanie: Neue Welten entdecken
Zu Beginn des ersten Semesters meines Psychologie Studiums lernte ich ein 21 jähriges Mädchen kennen, das unter Bulimie litt, mit der ich mich viel und lange unterhalten habe. Heute sind wir gute Freundinnen. Melanie hat sich bereit erklärt, mir ein Interview zu ihrer Krise zu geben.
Daniela: Melanie, Du leidest an Bulimie bzw. hast daran gelitten. Wie siehst Du Dich? In welche der vier Phasen würdest Du Dich einordnen?
Melanie: „Oh, ich würde sagen, ich befinde mich in der 4. Phase. Ich bin immer noch dabei, die Reste der Krankheit aufzuarbeiten, auch wenn ich mich nicht im eigentlichen Sinne mehr in Therapie befinde. Ich therapiere mich selbst weiter, und arbeite mit meiner Heilpraktikerin, wenn ich möchte, an dem einen oder anderen Punkt, der auftaucht.
Aber ich denke, ich durchlaufe diese Phasen innerhalb des großen Ablaufes immer wieder neu bei einzelnen Punkten. Es ist wie eine Spirale: Ich komme immer wieder an die gleichen Probleme, aber auf höherer Ebene.“
Daniela: Du befindest Dich also aus Deiner Sicht noch im Prozess. Wie hat deine Krise denn angefangen? Wie hast Du die erste Phase im Nachhinein erlebt?
Melanie: „Die erste Phase... Da war ich so dreizehn, vierzehn. Das war kurz bevor es mit der Essstörung losging. Ich war aber damals schon ganz schön durch den Wind: Zu der Zeit teilte sich die Klasse grade in die typischen Pubertätscliquen. Ich hatte viele meiner Freunde verloren, und war am Gläserrücken wie eine Irre...
Ich erinnere mich an eine Klassenreise: Ich hab die Leute oft gefragt, ob sie wüssten, wer ich bin. Für mich waren das damals philosophische Fragen, und ich mochte dieses erhabene Gefühl, das dem Wort „Sinnkrise“ anhaftete. Ich habe nicht gemerkt, dass es mir wirklich nicht gut ging.
Aber meine Freunde sprachen mich dann an, und sagten mir, dass sie mich als „seelisch unausgeglichen“ empfinden würden. Sie rieten mir, zu einem Psychologen zu gehen. Für mich war das damals, als ob mir jemand einfach so sagen würde: „Du bist verrückt!“, obwohl ich mich als völlig gesund empfand. Ich dachte im Leben nicht daran, eine Therapie zu machen, und fühlte mich durch die Reaktion meiner Freunde eher unverstanden und stigmatisiert. Das kann man wohl als „Nicht-wahr-haben-wollen“ bezeichnen, oder?
Auch als dann ein paar Monate darauf mein Essverhalten sich veränderte, und daraufhin meine Menstruation ausblieb, habe ich lange noch nicht mal den Gedanken gehabt, ich könne eine Krankheit haben. Für mich war das, also war Hungern einfach ein Weg, endlich zu bekommen, was ich wollte: Eine gute Figur, d.h. eine Beziehung und Ansehen in der Clique, zu der ich nicht gehörte. - Eine Krankheit war das damals bestimmt nicht für mich.“
Daniela: Und wann kam dann die Zweite Phase?
Melanie: „Ich weiß nicht genau, wie lange es gedauert hat, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es mir nicht gut geht, und dass irgendwas nicht stimmt. Ich weiß noch, ich habe meine Eltern angefleht, die Küche abzuschließen, und den Schlüssel zu verstecken, damit ich nicht mehr an den Kühlschrank komme - das war in der Phase, wo ich dann schon abwechselnd Heißhungerattacken hatte, und dann wieder hungerte.
Klar, Schuldgefühle hatte ich auch - aber sie richteten sich natürlich auf das Falsche: Ich hielt nicht das Hungern für unnormal, sondern meine Essattacken. Ich bekam das alles nicht mehr in den Griff, verlor die Kontrolle. Auch mit den Leuten in der Schule hatte ich Probleme. Und vor allem mein mangelndes Selbstbewusstsein nagte an mir.
„Chaotische Emotionen“ - so kann man das wohl nennen, ja... Ich wollte nicht, dass es mir so geht, dass ich das alles nicht mehr unter Kontrolle habe. Ich wollte einfach nur normal sein. Sicher habe ich mich ohnmächtig gefühlt und so. Denn ich wusste einfach nicht, wie ich wieder ein normales Verhältnis zum Essen bekommen sollte, und ich hasste meinen Körper, und ich hatte Depressionen...
Daniela: „Was hat Dich schließlich dazu bewogen, doch eine Therapie zu machen?“
Melanie: „Der Kulminationspunkt war interessanter Weise wieder nach einer Klassenreise: Ich hatte die ganze Zeit nur gelitten: An meiner Außenseiterposition, an dem Vorsatz zu hungern, und daran, diesen Vorsatz nicht einhalten zu können.
Ich kam nach Hause - endlich! Ich wollte die ganze Zeit nur weg! - und erzählte meinen Eltern davon. Mein Vater machte schließlich den Vorschlag, in Therapie zu gehen. Ich glaube, es hat mich wie damals auf der Klassenreise verletzt, dass er mir das sagte, aber ich habe mir eine Therapeutin gesucht. Ich erinnere mich kaum an meine Gefühle dabei. Aber der Leidensdruck war wohl einfach zu groß geworden, wie man so schön sagt...
Daniela: Wie ging es dann weiter? Folgte dann die dritte Phase?
Melanie: "Ja. Die dritte Phase begann dann schon nach den ersten Probestunden bei meiner Therapeutin. Ich musste ein paar Monate warten, bis ich die Therapie anfangen konnte. Aber die ersten Stunden haben wohl gewirkt, und ich begann mein Leben auf den Kopf zu stellen:
Ich musste meine Pubertät nachholen, die ich nie gelebt hatte - da war ich achtzehn. Ich wollte das Verbotene tun, und konfrontierte mich ganz bewusst mit Themen wie z.B. Sex.
Ich begann eine Beziehung zu einem Typen, der zu der Zeit auf Drogen war - er war Junkie und Callboy, und echt nicht das, was in die Welt meiner Eltern gepasst hätte. Das hat natürlich zu extremen Familienkonflikten geführt...
Heute kann ich sehen, dass ich einfach den engen Rahmen meiner „heilen“ Ein-Familienhaus-Welt Poppenbüttel sprengen musste, um mich zu befreien. Ich wollte „Erfahrungen machen“, wie ich es nannte. Ich lernte unabhängig und gegen ihren Willen Entscheidungen für mich zu treffen, Risiken einzuschätzen - ich entwickelte eigene Werte.
Es war eine Suche. Und ich habe dort viel gefunden, was noch heute für mich gültig ist: z.B. hat sich meine Überzeugung gehalten, dass ein Mensch eben ein Mensch ist - egal ob Beamter oder Junkie...
Ich begann, mich damit auseinander zu setzen, was mich geprägt hat - auch und gerade in der harten Konfrontation meiner Eltern. Die Konflikte stellten unsere Familienstrukturen quasi unter ein Vergrößerungsglas.
Ich schaffte mir meinen eigenen Initiationsprozess, indem ich mich mit allem konfrontierte, was ich in der Pubertät abgelehnt hatte, aus Angst vor dem, wovor mich meine Eltern gewarnt hatten: Sex, Drogen, extreme politische Gruppierungen...
Ich wollte keine Angst mehr haben. Ich wollte keine Angst mehr vor dem Leben. Vor all dem, was meine bürgerliche Heimat verurteilte, und damit die Möglichkeiten erheblich einschränkte, mich einschränkte.
Ich habe sehr viel Glück mit meiner Therapeutin gehabt. Sie machte keine Vorgaben, und zeigte mir einfach, wie ich mich selbst heilen konnte. Sie war da, um sich anzuhören, was ich tat, ein paar Tipps zu geben, und darauf Acht zu geben, dass ich nicht zu großen Unsinn machte:
Es war eine spannende Entdeckungsreise - und ich befand mich auf der Suche nach mir selbst.
Wir Essgestörten brauchen Freiraum, um uns zu fühlen, uns endlich wieder zu fühlen. Zeit, zu fühlen, wie es uns geht, was uns gut tut, und was nicht. Zeit, um wieder zu entdecken, was uns erfüllt.
Und diese Zeit nahm ich mir. Meine schulischen Leistungen ließen nach. Nach dem Abi machte ich erst mal fast gar nichts. Ich wollte Zeit, um überhaupt leben zu lernen. So viele Grund-Fähigkeiten, musste ich erst erlernen: Angefangen bei der Körperpflege, der Nahrungsaufnahme, Kommunikation...
Ja, es war eine Suche.
Besonders eindrücklich erinnere ich einen Traum, den ich während der Therapiezeit hatte: Ich träumte von einem Baum, dessen Wurzeln versteinert waren. Als Hausaufgabe trug mir meine Therapeutin auf, einen Dialog mit den Wurzeln zu führen. Das tat ich. Ich fragte sie, was sie bräuchten, um wieder lebendig zu werden Sie sagten, sie bräuchten einen Ort in der Natur, an dem ich mit Künstlern leben, und Kunst machen könne, und meine Spiritualität leben, und frei sein, und eben nicht „normal“.
Ich verschlang Frauenbücher - auf der Suche nach einem besseren Vorbild für das Frau-Sein als das, was meine Mutter mir gab. Wie sie wollte ich auf keinen Fall werden. So dick, dass mich mein Mann nicht attraktiv finden könnte...
Langsam entstand in mir ein Bild des Archetyps der guten Heilerin-Mutter, und damit ein Frauenbild, was ich annehmen, und anstreben konnte: Weise Heilerin und/oder Künstlerin...
Gleichzeitig war das der Grundstein, um in meiner Seele eine Instanz zu etablieren, die dafür Sorge tragen konnte, die Bedürfnisse meines inneren Kindes, und des Erwachsenenlebens miteinander in Einklang zu bringen. Es war eine Hilfe, meine innere Stimme ernst zu nehmen, und auch immer mehr Verantwortung für mich zu übernehmen.
Daniela: Zu der Zeit fand wahrscheinlich ein fließender Übergang zur vierten Phase statt. Wie erlebst Du diese Phase?
Melanie: Meine Einstellung zu der Krankheit hat sich verändert: Die Essstörung ist nicht mehr ein Feind, sondern ein hilfreicher Indikator dafür, wann etwas in meinem Leben nicht in Ordnung ist. Diese Zeichen sagen mir, wenn ich auf mich aufpassen und mir Zeit für mich nehmen sollte.
Und das mit den "neuen Werten", das stimmt schon: Ich habe einen neuen Selbst- und Wertebezug bekommen, das kann man wohl so sagen...
Ich habe zu meiner Weiblichkeit gefunden, die ich anders definiere, als Werbeplakate, Hollywoodfilme, und meine Mutter das tun.
Ich hätte ohne die Therapie wohl nie angefangen, mich mit Traumdeutung zu beschäftigen, was mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Ohne die Therapie hätte ich wohl nie entdeckt, wie spannend ich Heilungsprozesse finde - auch und gerade meinen Eigenen - vielleicht würde ich jetzt nicht Psychologie studieren.
Ich bin zwar nicht völlig durch, aber ich kann ein Leben führen, dass sich nicht nur zwischen Kühlschrank, Waage, Spiegel, Depressionen und Suizidgedanken abspielt.
Ich habe die Verantwortung für mein Leben in die Hand genommen, an einem Punkt, an dem mir keine andere Wahl mehr blieb: Untergehen, oder Verantwortung übernehmen. Da habe ich mich eben für Letzteres entschieden...
Manchmal habe ich auch Tage, da hänge ich wieder und wieder in den alten Problemen und wünsche mir, einfach nur stink-normal zu sein...
Daniela: Wie sieht Deine Einstellung zu Deiner Krise jetzt aus? Siehst Du positive Folgen oder Bereicherungen, die Du ohne die Krankheit nicht erfahren hättest?
Melanie: Ja, klar! Heute kann ich wirklich sagen, ich bin froh, dass ich krank war!
Ich wäre nicht der Mensch, der ich jetzt bin!
Ohne diese Krise wäre ich wahrscheinlich weder Frau, noch erwachsen, noch ich, noch glücklich geworden. Sie war nötig, um mich aus der Situation zu befreien, in der ich mich vorher befand.
Vor allem aber habe ich gelernt: Alles ist egal - nur eines zählt: Ich möchte mit mir im Reinen sein, mich lieben, mich leben, mich glücklich machen.
Und weiß Gott: Das ist Wandlung.
Ich bin so viel reicher als vorher, so viel stärker und so viel tiefer. Viele meiner heutigen Interessen, und viele Schichten des Lebens hätte ich ohne die Krankheit und die Therapie vielleicht nie - oder wenn, dann erst viel später - gefunden.
Daniela: Hat sich außer in Deiner Einstellung zu Dir und Deinem Selbstwert auch Deine Einstellung zu Deiner Umwelt verändert?
Melanie: Ja, durch meinen neuen Selbstwert habe ich begriffen: Nicht ich bin krank - sondern diese Gesellschaft. Und das macht Menschen krank.
Wenn man diese H&M-Plakate sieht - wie soll man denn da NICHT essgestört werden, bitte sehr!? Und dieser ganze Leistungsdruck, diese Oberflächlichkeit, und Sinnentleertheit...
Das war für mich eine wichtige Erkenntnis, die mir half, meiner inneren Stimme mehr Vertrauen zu geben, als den Stimmen aus der Umwelt, die mich beeinflussen.
Ich kann die Welt vielleicht nicht ändern - aber ich kann mir meine eigene kleine Welt schaffen, die ich so gestalte, wie ich es für richtig halte.
Ja, nee, es war echt das, was man wohl unter einer Plus-Heilung versteht. Allein schon das Wissen, was ich dadurch über diese Krankheit habe. Ich könnte mir echt vorstellen, damit was zu machen, und später Therapiemöglichkeiten für essgestörte Frauen zu schaffen, die es heute kaum gibt, aber die dringend gebraucht werden, wie ich finde. Ich kenne viele essgestörte Frauen - und alle wünschen sich etwas Ähnliches; und keine findet es in diesen Kliniken..
Aber das Wichtigste für mich ist:
Ich habe mich gefunden - und ich finde mich immer mehr.
Und ich habe ein Werkzeug in der Hand, dass mir niemand mehr nehmen kann:
Ich kann mich heilen.
Das ist ein Geschenk.
Und dafür bin ich dankbar.
Daniela: Zum Abschluss habe ich noch eine Frage: Welche der Merkmale, die die Chancen einer Bewältigung einer Krise erhöhen, kannst Du bei Dir feststellen? Was davon trifft auf Dich zu?
Melanie: Hmm, Ich denke das Merkmal „ feste Bezugsperson“ trifft auf meine Eltern schon zu, auch wenn ich im Nachhinein eine sehr kritische Einstellung zu ihrem Erziehungsstil entwickelt habe, aber wir hatten eine sehr enge
und liebevolle Bindung, würde ich mal sagen.
Also ein "robustes, und aktives Temperament" und "intellektuelle Fähigkeiten und Kreativität" habe ich ganz sicher.
Ich hab mich eigentlich nie lange passiv der Situation hingegeben oder mich in Verzweiflung geübt, sondern habe aktiv und mit Interesse an meinem Heilungsprozess mitgewirkt. Ich bin zu Vorträgen gelaufen, habe mir stapelweise Bücher zum Thema Essstörung reingezogen, eifrig Therapiebuch geführt und Erfahrungen gesammelt. Ich habe meine eigenen kleinen Rituale erfunden und alles in Liedern, Gedichten, Theaterstück-Entwürfen, Bildern und Tänzen verarbeitet.
Die Fähigkeit, mir Hilfe zu holen, hatte ich nur begrenzt, das habe ich dann während meiner Therapie gelernt.
Einmal war ja mein Entschluss, in Therapie zu gehen, schon ein
"Hilfe-Holen", und meine sonstige Recherche, und die Gespräche mit
meinen Freunden kamen ja auch noch dazu.
Allerdings ist es mir lange schwer gefallen, vor Freunden und Partnern emotionale Berührung zu zeigen, was meinen Schmerz und mein Leiden bezüglich der Essstörung angeht. Ich konnte immer gut intellektuell analysieren, warum was wie gekommen war. Oh ja! Problemanalyse liegt mir, macht mir sogar Spaß! Wie schon
gesagt, es hat mich fasziniert, herauszubekommen, was warum wie ist, und dann im Selbstversuch zu gucken, wie ich das ändern kann. Aber einfach mal heulen, und mich in den Arm nehmen lassen, das war sehr schwer für mich. Und zum Teil ist es das immer noch.
Auch das „Gefühle zeigen“ oder die schwachen Seiten - bzw. das, was wir gern als solche bezeichnen, musste ich erst lernen.
Durch meinen Freundeskreis und zeitweise auch durch meine Eltern hatte ich wohl auch so etwas wie ein "unterstützendes soziales Umfeld".
Daniela: Vielen Dank für das Interview!
|