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7.2 Parallelen zwischen dem Fallbeispiel und der Theorie
Melanie `s Krise beginnt im Alter von 13- 14 Jahren, in der Phase der Adoleszenz. Zu dieser Zeit kommt Melanie grade in die Pubertät, in der, laut Erickson, die Krise der Identität bzw. Rollendiffusion durchlebt wird. Melanie schildert genau, wie sie versucht, ihre eigene Identität durch Fragen an andere, wer sie sei, zu finden. Diese Krise scheint ihre Probleme zu bereiten, sie sucht ihre inneren Werte im Außen, durch Bestätigung und Meinung ihrer Mitmenschen.
Das Gläserrücken zeigt, wie sie sehr sie nach Orientierung sucht, die sie, wenn schon nicht in der Welt, im „Übersinnlichen“ oder in philosophischen Fragen zu finden glaubt. Vielleicht entsteht aus den Problemen mit der Lösung dieser Entwicklungsaufgabe Melanie Krise, die man als eine Reifungskrise deuten kann, da hier der anstehende Schritt von der Kindheit zum Erwachsenwerden nicht erfolgreich gemacht werden kann.
Der Verlust ihrer Kindheit macht ihr unbewusst Angst, die Anforderungen, die das Frau-Sein und das Erwachsenwerden mit sich bringen, scheinen ihr groß und unüberwindbar. Sicherlich gibt es für diese Angst ausschlaggebende Gründe in der Vergangenheit und dem Elternhaus, die hier aber nicht weiter untersucht werden sollen, da der Prozess und die Charakteristiken der Krise an sich im Vordergrund stehen.
Das in der ersten Phase auftretende Verleugnen des Problems und das „Nicht-war-haben-wollen“ sind bei Melanie wieder zu erkennen. Sie betrachtet ihre „Verwirrungen“ nicht als eine Krankheit, obwohl ihre Menstruation ausbleibt und sie nicht mehr normal mit der Nahrungsaufnahme umgehen kann und ignoriert die Zeichen ihres Körpers und ihrer Psyche. Damit verdrängt und leugnet sie ihr Problem vor sich selbst.
Der Verlust ihrer Kontrolle, besonders im Bereich des Essens (Essattacken und Hungerperioden) aber auch in ihrem sonstigen Leben, macht ihr Angst, die sie blockiert.
Die Krise breitet sich auf ihr gesamtes Umfeld aus: sie kommt in Konflikte mit ihren Eltern und hat Probleme mit ihren Freunden, wird weiter zu Außenseiterin.
Erst als der Leidensdruck zu groß wird, sieht sie, nach einer Klassenreise, einer Extremsituation im Bezug auf das soziale Leben eines Jugendlichen ihres Alters, in einem eindringlichen Gespräch mit ihrem Vater ein, dass sie therapeutische Hilfe braucht.
Die Motivation, sich mit ihrer Krise und sich selbst auseinander zu setzen nimmt Melanie aus dem Leidensdruck. Sie willigt unter dem Erkennen des Verlusts ihrer Gesundheit in eine Therapie ein, die der von Verena Kast (1989) beschriebenen Krisenintervention gleicht.
Auch die Phase der aufbrechenden Emotionen erlebt Melanie wie sie von Verena Kast (1989) beschrieben wird: sie bekommt starke Schuldgefühle, die sie auf das unkontrollierte Essen bezieht. Die Suche nach einem Schuldigen endet, in ihrem Fall, bei ihr selbst.
Melanie erlebt Gefühle der Einsamkeit, weil sie sich von Freunden und verlassen und von den Eltern unverstanden fühlt. Sie fühlt Wut auf ihren Körper, mit dem sie nicht zufrieden ist und immer wieder Angst vor Kontrollverlust und Erwartungen und Anforderungen der Umwelt nicht zu entsprechen.
Die Phase des Suchens, Sich-Findens erlebt Melanie sehr intensiv und beschreibt ausführlich ihre Suche nach ihrer Identität, ihrem eigenen Wertesystem, dem, was das Frau-Sein für sie selbst bedeutet, und ihre Entdeckung der Welt durch die Ablösung vom Elternhaus und den ihr dort vermittelten Normen und subversiven Gesetzen. Indem oben abgedruckten Interview wurden diese Ausführungen gekürzt.
Die Ähnlichkeit des kreativen Prozesses zum Prozess einer Krise, den Verena Kast anführt, wird hier sehr deutlich: in dieser Phase schreibt Melanie viele Gedichte, eines davon im Anhang, und entdeckt ihre Spiritualität und Liebe zur Kreativität bzw. Kunst.
Melanie Verhalten in dieser Phase stimmt überein mit dem dritten Typ Mensch, den Hiroshi Oda (2004) beschreibt: Melanie verändert ihr gesamtes Leben, orientiert sich neu und geht bewusst auf Konfrontation zu dem bisher Gelebten.
In dieser Phase holt sie die Entwicklungsschritte, die sie in der Pubertät nicht gemacht hat, nach, wenn auch sehr extrem, findet dadurch aber zu der Identität, die sie schon so lange sucht.
Verena Kast (1989) weist auf die Bedeutung der Angst, Panik im Bezug auf Krisen hin. Grade Angst will Melanie in der dritten Phase nicht mehr spüren und riskiert viel, um durch das Bewusste Erleben von Gefährlichem, keine Angst mehr zu empfinden. Nur durch das direkte Auseinandersetzen mit ihrer Krise und das Sammeln neuer Erfahrungen, Erlebens- und Verhaltensweisen, ist es ihr möglich, Wege aus der ausweglos scheinenden Bulimie zu finden.
Melanie sieht ihre Krise als Wendepunkt zwischen Untergehen und Verantwortung für sich übernehmen, hier wird ihre Einstellung zu ihrer Krise deutlich: sie sieht die Krise als Entscheidungspunkt, an dem sie etwas in ihrem Leben ändern muss.
Nach Melanie eigener Einschätzung, befindet sie sich heute in der vierten Phase, in der sie versucht, die gewonnen Erkenntnisse und die neuen Erfahrungen und Verhaltensweisen in ihr Leben zu integrieren. In dieser Phase durchlebt sie Höhen und Tiefen und arbeitet immer wieder mit Strukturen ihres früheren Lebens. Oft unterhalte ich mich mit ihr über die Geduld und die Kraft, die man braucht, um sich grade in dieser Phase immer wieder zusammen zu reißen und das Neugelernte und die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.
Das beschriebene spiralenförmige Widererleben verschiedener Phasen innerhalb dieser Zeit wird auch in Kasts Buch angeführt.
Melanie erlebt die Veränderungen ihres Selbst durch die Krise als ausschließlich positiv, als einen großen Gewinn neuer Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, auch wenn sie sich noch im Endstadium des Krisenprozesses befindet. Der Sinn ihrer Krise liegt für sie darin, zu sich selbst gefunden zu haben, Signale des Körpers zu erkennen und zu hören und Zugang zu Bereichen des Lebens gefunden zu haben, die sie sonst nicht kennen gelernt hätte, wie zum Beispiel ihre Kreativität, das Interesse an alternativer Heilung, Traumdeutung und Spiritualität.
Sie lebt bewusster als früher und kann aus der Krise gewonnene Erfahrungen oft nutzen. Sie fühlt sich reicher, stärker und tiefer und hat ein gesundes Selbstbewusstsein ausgebildet. Auch schätzt sie die vielen Freundschaften, die sie ohne ihre Krankheit nicht geschlossen hätte. Sie hat es geschafft, die Chancen für eine Weiterentwicklung, die eine Krise mit sich bringt, zu sehen und auch weitgehend umzusetzen.
Wie sehr sich ihre Lebenseinstellung verändert hat, zeigt sich unter anderem darin, dass sie jetzt ihre Gefühle bewusst auslebt und versucht auf ihren Körper zu hören, statt verkrampft Erwartungen zu entsprechen, denen sie sich durch ihr soziales Umfeld ausgesetzt fühlt.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Merkmale der Resilienz eingehen.
Melanie konnte keine Angaben zu einer positiven frühkindlichen Entwicklung machen, aber aus der Tatsache, dass sie bei zwei gut behüteten, liebevollen Eltern aufwuchs, lässt vermuten, dass sie mindestens eine zuverlässige Bezugperson hatte. Die früheren Entwicklungsaufgaben bewältigte sie ohne Auffälligkeiten.
Nach Melanie eigener Einschätzung besitzt sie intellektuelle und kreative Fähigkeiten, ein großes Maß an Problemlösefähigkeit und kann ihre Situation angemessen einschätzen. Vielleicht kann man das mit ihren Erlebnissen in der dritten Phase belegen, da sie sich hier mit Absicht in Extreme Situationen begab, ohne aber dabei zu Schaden zu kommen, konnte also immer die Realität angemessen beurteilen. Grade in dieser „wilden“ Zeit, zeigt sie ein hohes Maß an Flexibilität, mit der sie immer wieder Neues ausprobiert, nicht an alten Dingen festhält.
Durch ihre Therapeutin, die sie um Rat fragen konnte und die ihr ein Gefühl des Schutzes gab, und durch gute Freunde hatte sie das unterstützende soziale Umfeld, das sie brauchte, um sich „frei zu kämpfen“.
Auch die Eigenschaft des starken Glaubens an Gott und die Heilung ihrer Bulimie trifft auf Melanie zu, sie findet darin Mut und Zuversicht.
Das Merkmal des aktiven robusten Talentes zeigt sich darin, dass sie sich informiert, sich alle möglichen Bücher über Essstörungen sucht und liest, und vor allem darin, dass sie von selbst bewusst Dinge ausprobiert, um ihre Situation zu verändern. Hier findet man auch die wichtige Vorrausetzung zur Bewältigung einer Krise, nicht zu resignieren, aufzugeben oder sich als Opfer zu fühlen, sondern durch Mut und aktives Handeln Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.
Da ich engen Kontakt zu Melanie habe, kann ich sagen, dass auch das positive Selbstkonzept und die sozialen Fähigkeiten auf sie zutreffen, sie kann mit Humor ihre heute noch bestehenden kleinen Probleme des Alltags und „Reste“ der Krankheit betrachten.
Widersprüche zwischen der Annahmen, die im Theorieteil gemacht wurden, und Melanie Schilderung ihrer Bulimie ließen sich nicht aufzeigen.
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