krise als chance

Krise als Entwicklungschance

7.3 Fallbeispiel Lance Armstrong: Tour des Lebens

Ein typisches Beispiel für den Kämpfertyp ist Lance Armstrong. Über seinen Kampf mit einer lebensbedrohlichen Krankheit, bei der die Ärzte seine Überlebenschance auf drei Prozent schätzten, und die Veränderung und Weiterentwicklung, die diese Lebenskrise für ihn zur Folge hatte, schrieb er ein Buch mit dem Titel: „Tour des Lebens: wie ich den Krebs besiegte und die Tour de France gewann“(2000). In dieser Biographie kann man den typischen Verlauf einer Krise und ihrer Merkmale allgemein verdeutlichen.

Lance Armstrongs Krise verläuft wie eine typische Krise bei einer lebensbedrohlichen Krankheit. Doch auch, wenn er erst durch diese Krankheit, den Krebs, in eine Krisensituation gekommen ist, ist das Lebensproblem, aus dem die Krise entsteht, nicht der Krebs selbst. Lance Armstrong hat durch das Überwinden dieser lebensgefährlichen Krise die Erkenntnis gewonnen, dass diese Krankheit ein Zeichen seines Körpers war, welches ihm sagen sollte, dass in seinem Leben etwas nicht in Ordnung ist. Hierauf werde ich, bei der Betrachtung der Gewinne und Chancen, die er aus seiner Krise zieht, zurückkommen.

Die erste Phase seiner Krise beginnt im Herbst 1996, als er mit 25 Jahren vom Arzt die Diagnose Hodenkrebs erstellt bekommt. Er selbst fühlt sich zu dieser Zeit in Bestform, obwohl sein Hoden anschwillt. Auch für andere Warnsignale seines Körpers, wie zum Beispiel das Husten von Blut oder Schwächegefühle ignoriert er oder findet vor sich selbst andere Ausreden. Er redet mit niemandem über die von ihm verdrängten Schmerzen und leugnet, dass er ein Problem hat. Hier sieht man deutlich das Merkmal des „Nicht-Wahrhaben-Wollens“ und auch das Verleugnen und die Empfindungslosigkeit, mit der er Schmerzen ignoriert.

Erst als der Leidensdruck zu groß wird, sucht er am 2. Oktober 1996 einen Arzt auf. Die Ergebnisse der Untersuchung, die ihm sagen, dass er Hodenkrebs und Metastasen in der Lunge hat, versetzen ihn in einen Schockzustand, in dem er zunächst nur das Aus seiner Karriere vor Augen sieht, bis ihm klar wird, dass es um weitaus mehr geht: sein Leben. Sein Wertesystem gerät schon hier aus den alten Fugen. Mit der eindeutigen, fatalen Diagnose kann er sich nun selbst nichts mehr vormachen und realisiert, dass er ernsthaft krank ist und sein Leben nie mehr so sein wird wie früher.

Einige Zeit später wird zusätzlich ein Hirntumor festgestellt, doch auf diese Hiobsbotschaft reagiert Lance Armstrong nüchtern. Seine Mutter erleidet hingegen einen schweren Schock. Die typische Einengung des gesamten Lebens, die Zuspitzung und Ausbreitung der Krise auf den ganzen Lebensinhalt, wird hier besonders deutlich: das Leben selbst ist bedroht und alles, was vorher von größtem Wert war, ist jetzt nichtig und irrelevant.

Hier beginnt der Übergang zur zweiten Phase. Aufgrund der Diagnose wird er so schnell wie möglich operiert. Die Operation scheint erfolgreich gelaufen zu sein, was jedoch noch lange keine Erleichterung oder Zeichen der Bewältigung der Krankheit ist, denn nach einer Erholungszeit beginnt die Chemotherapie, um alle Reste und die Metastasen in der Lunge zu zerstören. Lance Armstrong weiß, dass die Chemotherapie nicht nur den Krebs angreifen wird, sondern auch seinen ohnehin geschwächten Körper. Er ist jedoch fest entschlossen, den Krebs zu besiegen. Sein Leben ist nun davon abhängig, ob sein Körper die Chemotherapie verkraftet.

Das Emotionschaos, das typisch für diese Phase ist, beschreibt er ausführlich. Er empfindet Wut, weil er sich seine Schwäche nicht eingestehen will, auch darauf, dass er überhaupt betroffen ist: „Dann baute sich eine Welle der Wut auf, ich war lebendig, und ich war voll Wut, und ich konnte das eine nicht ohne das andere empfinden. Ich war lebendig genug, um wütend zu sein. Ich wollte kämpfen vor Wut, leben vor Wut, überhaupt alles vor Wut, war wütend, weil ich im Bett liegen musste, wütend auf die Verbände um meinen Kopf, wütend auf die Schläuche die mich fesselten, so wütend, dass ich außer mir war, so wütend, dass ich fast anfing zu heulen.“ (S. 146)

Manchmal ist er dankbar, dass die Operation erfolgreich war und er so viele Menschen hat, die ihn lieben und zu ihm stehen, gleichzeitig fühlt er sich unverstanden.
Auch die Schuldfrage: „Warum ich?“ stellt er sich in dieser Zeit manchmal, und kommt zu der Erkenntnis, dass es keine Frage der Würdigkeit oder des Wertes ist, wer Krebs bekommt und wer nicht, und diese Frage zu selbstbezogen ist.
Die Unruhe und Selbstzweifel zeigen sich in einem großen Gefühlszwiespalt zwischen der Angst vor Leben und Tod gleichzeitig, alles zu verlieren, und der Hoffnung, dem Glauben an sich selbst und seine Mitmenschen.

Auch bei Lance Armstrong spielt, wie bei Melanie, die Angst, die nach Verena Kast eine wichtige, wenn auch die Bewältigung erschwerende, Komponente der Krise ist, eine große Rolle. Er schreibt: „Ich dacht, ich wüsste was Angst ist – bis ich den Satz hörte: „Sie haben Krebs.“ … „Meine früheren Ängste, die Befürchtung, nicht gemocht oder ausgelacht zu werden, die Angst mein Geld zu verlieren, all das kam mir auf einmal vor wie läppische Feigheit.“ (S. 89).
Die Angst, die wir in Krisensituationen empfinden, blockiert uns und bringt den Prozess, der Ende der zweiten Phase zum Höhepunkt kommt, an dem eine Entscheidung getroffen werden muss, zur Stagnation, verhindert die Bewältigung des Problems. Deswegen ist die Aufgabe des Therapeuten bei einer Krisenintervention, Distanz zwischen die betroffene Person und die Angst in der Krise zu bringen, damit das Problem nüchterner von Außen betrachtet werden kann.
Lance Armstrong wendet sich nicht an einen Therapeuten, setzt sich aber trotzdem intensiv mit seiner Angst auseinander und schafft so die nötige Distanz und Lösung der Angst. Er setzt seine Hoffnung und seine Kampfbereitschaft, die bei ihm, wie man an zahlreichen Radrennen beobachten kann, sehr ausgeprägt ist. Er schreibt: „Wer ist stärker, die Angst oder die Hoffnung? Das ist eine interessante Frage, vielleicht sogar eine Wichtige. Anfangs war ich voller Angst und hatte wenig Hoffnung, aber als ich dasaß und das ganze Ausmaß meiner Krankheit langsam in mein Blickfeld rückte, weigerte ich mich zuzulassen, dass die Angst meinen Optimismus niedermacht…Wer je Angst in einem solchen Ausmaß erlebt hat, kennt seine Hinfälligkeit besser als die meisten Menschen, und ich glaube, dass man sich durch diese Erfahrung verändert.“ (S.118f).

Die Auseinandersetzung mit seiner Lebensangst ist der fließende Übergang zur dritten Phase, in der er sein ganzes Leben reflektiert und noch einmal durchlebt. Er überdenkt seine Einstellung zu Gott, zum Glauben, zum Leben, zum Kämpfen und Gewinnen und zum Tod. Sein Wertesystem ordnet sich neu, Radfahren ist nun nicht mehr sein Lebensinhalt; er akzeptiert, dass er dieses Hobby, welches zu seinem Beruf geworden ist, vielleicht nie wieder ausüben können wird. Seine Sponsoren, sein Vermögen und seine bisherige üppige Lebensweise, die er sich aufgrund seiner Erfolge hatte leisten können, treten in den Hintergrund. Wert hat für ihn allein am Leben zu sein, mit den Menschen, die er liebt. „Die Krankheit zwang mich, mir mehr abzuverlangen, als je zuvor und forderte von mir ein neues Wertesystem.“ (S. 118)

Er akzeptiert sein Schicksal, seine Krankheit und die damit verbundenen möglichen Folgen, aber im Gegensatz zu manchen anderen Patienten resigniert er nicht, sondern ist fest entschlossen, sein Leben zu verteidigen und mit aller Macht zu kämpfen.

Durch das Akzeptieren und Reflektieren sieht er nun auch Sinn und Nutzen des Krebses. Rückblickend sagt er: „Meine Krankheit hat mich vom hohen Ross geholt und mir ist eine Menge klar geworden. Der Krebs hat mich gezwungen, unbarmherzig über mein Leben nachzudenken… Ich habe mich gefragt: „ Was für ein Mensch willst Du überhaupt sein- wenn Du überhaupt am Leben bleibst?“…“In Wahrheit war der Krebs das Beste, was mir passieren konnte. Ich weiß nicht, warum ich diese Krankheit bekommen habe, aber sie hat bei mir Wunder bewirkt und ich will gar nicht, dass es nicht so gekommen wäre.“ (S. 10). Er betrachtet seine Krankheit als das wichtigste und prägendste Ereignis seines Lebens.

Er begreift, dass er durch die Krankheit lernen musste, zu sehen, dass er nicht unverwundbar ist, wie er zu glauben schien, und sich eigene Schwächen einzugestehen und zu akzeptieren. Auch das angemessene Reagieren und Umgehen mit Emotionen sind für ihn dazu gewonnene Bereicherungen, die er durch diese Krise erfahren durfte.

Er ist menschlicher geworden, erstens anderen gegenüber und zweitens ist er menschlicher zu sich selbst geworden, denn vor der Krankheit hatte er seinen Körper immer nur benutzt, um Erfolg zu erzielen, gequält, um Radrennen zu gewinnen und Signale und Zeichen der Schwäche oder Schmerzen brutal überhört, um anderen etwas zu beweisen und zu gewinnen. Durch den Krebs änderte sich die Einstellung zu sich selbst und seinem Körper.

Nach den unglaublichen physischen und psychischen Leiden, den Höhen und Tiefen, die er mit der Chemotherapie durch gemacht hat, ist er nun dankbar, denn alle medizinischen Untersuchungen deuten darauf hin, dass er über den Berg ist und auf dem Weg der Genesung, wenn er auch viele Narben davon trägt und sehr schwach ist.

Manchmal bekommt er Schuldgefühle, weil er zu den Glücklichen gehört, die diese Krankheit besiegt haben und gründet eine Krebsstiftung. Doch die Angst, wieder krank zu werden, bleibt noch bestehen: „Ich hatte keinen Krebs mehr, aber es war auch nicht so, dass ich keinen Krebs mehr hatte. Ich befand mich auf dem Weg der Besserung, in einem Zustand der Angst, den man Remission nennt, und ich war von dem Gedanken besessen, einen Rückfall zu bekommen.“ (S. 205). Die Angst spielt also auch nach dem Höhepunkt der Krise, zu dessen Überwindung man die Angst lösen muss, um Klarheit zu bewahren und in Kontakt mit der Krise zu kommen, eine große Rolle.

Das Merkmal des „Suchens und Findens“, zeigt sich bei Lance Armstrong in den großen Zweifeln, die er an seinem bisherigen Lebensinhalt bekommt. Im einen Moment nimmt er sich vor, wenn er wieder gesund ist, die Tour de France zu gewinnen, und glaubt fest daran, dass er wieder Radrennfahrer wird. Im nächsten Moment will er überhaupt nicht mehr auf sein Fahrrad steigen. Eine lange Zeit schreibt er das Radfahren ganz ab, hat auch Depressionen und an kaum etwas Interesse. Er beschreibt sich als unschlüssig.

Zur vierten Phase ist der Übergang ebenfalls fließend. Auch wenn es für Außenstehende so aussieht, als wenn jetzt alles „wieder gut“ sei, beginnt für Lance Armstrong jetzt eine schwierige Phase, in der ihm sein Kämpfergeist, der ihm geholfen hat, den Krebs zu besiegen, keine Stütze sein kann. Er beschreibt die Öffnung zur Welt als problematisch: „Aber was macht man, wenn man den Krebs überlebt hat? Niemand kann einem einen Rat geben. Was bedeutet es? Wen die Behandlung abgeschlossen ist, sagen die Ärzte: „Sie sind geheilt, gehen Sie nach Hause, und leben Sie! Viel Glück.“ Aber es gibt keine Unterstützung, niemand, der einem dabei hilft, mit den emotionalen Folgen fertig zu werden, mit der Rückkehr in die Welt, nachdem man um sein Leben gekämpft hat.“ (S. 234)

Er steht nun vor der Anforderung, die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse in sein Leben zu integrieren und wieder ein „normales“ Leben in die Hand zu nehmen. Nach Verena Kast fällt es vielen Menschen schwer, nach dem Überwinden des Höhepunktes einer Krise und der dritten Phase, die letzten Schritte zu machen. Damit ist das Umsetzen des neu Gelernten und Erfahrenen im Alltag gemeint, nachdem die emotionale Balance wieder hergestellt ist, was Mut, Motivation und Durchhaltevermögen erfordert.

Das Loslassen des Schmerzes besteht bei ihm im Verarbeiten der Leiden in Albträumen und im Realisieren, jetzt nicht mehr krank zu sein, was ihm zuerst Schwierigkeiten bereitet, er schreibt dazu: „Wenn man ein ganzes Jahr lang Angst vor dem Tod gehabt hat, meint man, für den Rest seines Lebens Anspruch auf Dauerurlaub zu haben…ein Teil von mir wollte mein altes Leben nicht zurückhaben.“ (S. 235). Auch dieser Satz drückt aus, wie schwierig die Blockaden zu beseitigen sind, das Erkannte im Alltag umzusetzen. Lance Armstrong widmet dieser Phase drei Kapitel seines Buches, in denen er über seine neue Liebe, über den Rückweg ins alltägliche Leben und das Training und über den Sieg bei der Tour de France schreibt.

Wenn man einen Zeitpunkt nennen will, an dem man sagen kann, Lance Armstrong habe seine Krise überwunden und abgeschlossen, ist das wohl am ehesten der Sieg der Tour de France im Sommer 1999, drei Jahre nach der Diagnose seiner Krankheit, wobei auch der Übergang von der vierten Phase in das „normale Leben“ ein Fließender ist. Er schreibt zu seinem Sprint auf den letzten Metern: „Dachte ich auf diesen letzten paar hundert Metern an Krebs? Nein. Ich würde lügen, wenn ich das behauptete. Aber ich glaube, dass – direkt oder indirekt – all das bei mir war, was in den letzten zwei Jahren mit mir geschehen war….Entweder ich bin dadurch schneller geworden oder die anderen wurden langsamer.“ (S. 297).

Abgesehen von der Wandlung, die er als Mensch durch den Krebs erfahren hat, hat ihm diese Krankheit auch Vorteile für die Tour de France gebracht, denn er hat dadurch gelernt, nicht mehr wild drauf los zu fahren, sondern seine Kräfte besser einzuteilen. Dies ist ihm möglich, weil er nun seinen Körper besser kennen und schätzen gelernt hat. Das Lance Armstrong jemals wieder in der Lage sein würde, die Tour de France überhaupt anzutreten, geschweige denn zu gewinnen, hatte damals keiner zu glauben gewagt.

Verena Kast schreibt in ihrem Buch, dass Menschen, die eine lebensbedrohliche Krankheit haben oder hatte dadurch lernen, abschiedlich zu leben, was bedeutet, jeden Tag zu leben, als wenn es der Letzte wäre. Auch darauf geht Lance Armstrong ein, sagt aber dazu, dass er es versucht habe, es würde nicht funktionieren (S. 235).

Nun möchte ich auf die Resilienzfaktoren eingehen, die bei Lance Armstrong vorzufinden sind.
Zwei Kapitel seines Buches schreibt der Autor über seine Vergangenheit, seine Kindheit, den Beginn seiner Radsportkarriere und die äußeren Umstände, die ihn geprägt haben. Hieran sieht man, dass seine Einstellung zu seiner Krankheit sich dahin gehend verändert hat, dass er diese nicht mehr nur als eine physische Krankheit betrachtet, sondern als ein viel weit greifenderes Ereignis, dass auch durch seine Vergangenheit beeinflusst wird.

Von Anfang an sieht er seine Krankheit als Kampf, er hat die Verantwortung zu gewinnen. Diese Verantwortung nimmt er ernst und beschäftigt sich in dieser Phase ausschließlich mit sich selbst und dem Krebs, er sucht in Büchern, im Internet und bei Experten nach Informationen und den neusten Fortschritten in den Therapien gegen Krebs. Er sucht Hilfe in seiner sozialen Umwelt, wo er nur kann. Das erste was er nach seinem Arztbesuch getan hatte, war alle Freunde anzurufen und mit Menschen zu reden, anstatt sich depressiv zurück zuziehen und sich von allem abzukapseln.

Er hat also die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen und auch ein aktives Temperament, was sich unter anderem in seiner Informationssuche zeigt. So labil er auch durch die Operationen und die Chemotherapie wird, lässt er sich doch nie davon abbringen, zu glauben, zu hoffen und fest entschlossen zu sein, den Krebs zu besiegen. Er baut zu dem Feind in seinem Körper, den zu bekämpfen sein höchstes Ziel ist, eine richtige Beziehung auf und redet sogar mit dem Krebs.
Die Opferrolle nimmt er zu keiner Zeit ein, es fällt ihm im Gegenteil sogar schwer, vor anderen seine Schwächen zu zugeben.

Ausführlich beschreibt Lance Armstrong dem Leser in seinem zweiten Kapitel die besonders gute Beziehung zu seiner Mutter, die von seiner Geburt an bis durch seine Krise die wichtigste Person seines Lebens ist. Er bezieht sie in jede Entscheidung mit ein und will sie bei wichtigen Ereignissen immer mit dabei wissen. Das Merkmal der festen Bezugperson, durch die man ein Urvertrauen aufbaut, trifft auf Lance Armstrong zu.

Zu seinem Vater hat Lance Armstrong überhaupt keinen Kontakt. Es bleibt der Eindruck, dass er ihm vorwirft, seine Mutter im Stich gelassen zu haben, noch kurz vor seiner Geburt. Mit anderen Partnern der Mutter, zu denen sie kurzweilige Beziehungen hatte, kam er nicht zurecht und war immer froh, wenn sie sich aus seinem Leben wieder verabschiedeten.

Seine Mutter ist überdies auch deswegen wichtig, weil sie diejenige ist, die ihm schon in frühster Kindheit beibringt, nicht aufzugeben. Jedes Mal, wenn Lance Armstrong an einen schweren Punkt in seiner Krise kommt, beinahe verzweifelt oder den Kämpfergeist aufzugeben droht, hört er die Sätze seiner Mutter: „Junge, man schmeißt niemals den Kram hin!“ Durch sie lernte er, nicht aufzugeben und durchzuhalten, was ihn besonders in der vierten Phase und während der Chemotherapie vor einem Scheitern an seiner Krise bewahrt. Der Gedanke an sie und ihren Glauben in ihn gibt ihm Kraft.

Hier kommt der Glaube ins Spiel, der sich zwar nicht auf eine religiöse Figur wie Gott oder Ähnliches richtet, sondern ein Urvertrauen ins Leben und in die eigenen Kräfte darstellt.

Seine zahlreichen Siege vor der Krankheit verankern ein starkes Selbstbewusstsein in Lance Armstrong. Wenn er sich auch phasenweise während der Krise völlig wertlos, überflüssig und als Invalide fühlt, hat er doch ein positives Selbstkonzept. Besonders das Merkmal des Humors zeigt sich in seinem Schreibstil, mit Ironie und manchmal auch ein wenig Sarkasmus erzählt er über seinen Weg durch die Krise.

Auch wenn er von Angst gepackt wird, schafft er es doch, bei dem Schock seiner Krankheit, bei der ersten Diagnose, wie auch bei der Nachricht des Gehirntumors, nüchtern die Fakten zu betrachten und mit Hilfe seiner Mitmenschen die bestmöglichen Schritte zu machen. Hier erkennt man das Merkmal der realistischen Selbsteinschätzung und die angemessene Analyse des Problems.

Die Flexibilität zeigt sich zum Beispiel darin, dass er keine Probleme damit hat, von heute auf morgen einer Operation zu zustimmen, plötzlich Krankenhäuser oder Ärzte zu wechseln und sich auch neue Situationen, wie die Chemotherapie, einzustellen.

Ich möchte noch einmal das Merkmal des positiven Denkens in den Vordergrund stellen, da diese bei Lance Armstrong besonders deutlich ist. Er hatte eine Überlebenswahrscheinlichkeit von nicht mal 20% und wusste dies nur zu gut. Trotzdem gab er das Hoffen nie auf. Das Hoffen und Nichtaufgeben ist grade in Lance Armstrongs Fall erstaunlich, da seine Situation allen anderen ausweglos zum Tode zu führen schien. Seine Genesung, der Sieg der Tour de France und dann auch noch das Zeugen eines gesunden Sohnes, gelten für viele als ein Wunder.
Nachdem er den Krebs besiegt hatte, erfuhr er, dass sein Arzt nur mit drei Protzentiger Wahrscheinlichkeit von seinem Überleben ausgegangen war. Er schreibt dazu: „Können wir etwas anderes tun als zu hoffen? Wir haben zwei Möglichkeiten, medizinisch und emotional: aufzugeben oder wie wild zu kämpfen….mit kämpfen meine ich: sich mit jeder verfügbaren Information zu bewaffnen, eine zweite Meinung, vielleicht sogar eine dritte oder vierte einzuholen. Sie müssen genau darüber Bescheid wissen, was in Ihren Körper eingedrungen ist. Eine weitere Tatsache im Zusammenhang mit Krebs ist, dass besser informierte und selbstständig handelnde Patienten auch bessere Chancen haben, um langfristig zu überleben.“ (S. 328ff).

Ich denke, dass diese Worte auf alle Arten von Krisen verallgemeinert werden können: je besser informiert, aktiv und selbstständig ein Patient mit seiner Krise umgeht und Verantwortung für sich übernimmt, desto größer sind die Chancen, durch eine Krise stärker zu werden, als vorher.

Ein in der Theorie genanntes Merkmal ist die Fähigkeit, vorausschauend zu handeln. Lance Armstrong spendet noch vor seiner ersten Operation Samen, in dem Wissen, dass er eventuell unfruchtbar werden wird. Nur durch diese vorrausschauende Entscheidung war es letztendlich möglich, dass sein Sohn zur Welt kommen konnte. Viele andere Menschen hätten in seiner Situation wohl nicht solche späteren Entwicklungen eingeplant.
Auch andere Entscheidungen, die während seiner Krise aufgrund de Geldes und der späteren Lebensplanung getroffen werden mussten, trifft er mit der angemessenen weitsichtigen Ruhe.

Intellektuelle Fähigkeiten sind zweifellos vorhanden, was sich an seinen Gedanken zeigt, jedoch nicht durch schulische Laubbahn bestätigt wird. Auch seine Kreativität bezogen auf das Lösen von Problemen oder Hindernissen im Alltag zeigt sich deutlich in den beiden Kapiteln, die er über seine Jugend und Kindheit schreibt.

Seine sozialen Kompetenzen fallen mir schwer zu beurteilen, denn er ist kein herausragend geselliger Mensch oder besonders geschickt im Umgang mit Menschen, aber auch nicht in die entgegengesetzte Richtung ausgeprägt. Er schreibt aber, dass er auf dem Feld der Menschenkenntnis und des Umgangs mit Menschen durch seine Krankheit viel dazu gewinnen konnte.

Viele Aspekte der Veränderung, die durch den Krebs entstanden sind, die Lance Armstrong an sich und seinem Verhalten wahrgenommen hat, habe ich bereits im Zusammenhang mit dem Erkennen, des Sinns der Krise, in der dritten Phase aufgezählt. Hier noch ein Zitat von ihm selbst: „Wenn mich jemand fragen würde, was mir wichtiger sei, der Sieg über den Krebs oder den Sieg bei der Tour de France, dann würde ich sagen, der Sieg über den Krebs. Das hat mich als Mensch, als Mann, als Ehemann, als Sohn und als Vater verändert.“ (S. 321).

Heute lebt Lance Armstrong gesund und glücklich mit seiner Frau und seinem Sohn zusammen.

Lance Armstrongs Beschreibungen seiner Krise stimmen mit allen Annahmen der Theorie überein.

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