krise als chance

Krise als Entwicklungschance

3. Wie entsteht eine individuelle Krise?

Um die Entstehung von Krisen zu beschreiben, ist es wichtig festzustellen, dass es keine objektive Situation gibt, die notgedrungen auch eine Krise in jedem Menschen auslöst, und auch kein Ereignis, dass zu einer kritischen Lebenssituation führen muss, da jeder individuell und subjektiv seine eigene Situation beurteilt. Wie sich Krisen und die Beurteilung der Situation bei Menschen unterscheiden, untersucht die Differentielle Psychologie.
Ob wir ein Ereignis oder eine Situation als bedrohlich oder einengend empfinden und uns in einer Krisensituation fühlen, hängt von unserer Einschätzung ab. Wir kommen in jede Lebenssituation mit einer Vielzahl von Vorerfahrungen, welche bei jedem Menschen Unterschiedlich sind. Unsere Vorerfahrungen sind durch Wahrnehmungen, Emotionen und vor allem Kognitionen bestimmt, durch die wir die Welt wie durch eine Brille sehen. Sie bestimmen, wie wir Umweltreize und situative Reize aufnehmen und verarbeiten und somit auch, wie wir sie einschätzen, gewichten und interpretieren. Beim Umgang mit kritischen Lebensereignissen sind drei Einschätzungen entscheidend (Gräser, Esser, Saile 1995):

1. Einschätzung der Bedrohung der Situation für einen selbst (primary appraisal)
2. Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten (secondary appraisal)
3. Einschätzung des Erfolges des eigenen Handelns (reappraisal)

Wie wir unsere eigene körperliche Verfassung, unser soziales Stützsystem und unsere Erfahrung mit der Situation beurteilen, spielt eine große Rolle (situative Gegebenheiten).
Diese subjektive Beurteilung unserer Lage löst eine Reihe von Folgereaktionen aus, z.B. wie wir handeln, mit anderen Menschen umgehen und uns fühlen.

Es kann also sein, dass sich zwei Personen „objektiv“ in der gleichen Situation befinden, der eine sich selbst aber als „ in einer Krise steckend“ fühlt, der andere hingegen die Bedrohung der Lage als ungefährlich bzw. nicht als einengend empfindet. Deswegen können Krisensituationen bzw. kritische Lebenssituationen nicht vorher definiert oder festgelegt werden.

Eine subjektiv wahrgenommene Krisensituation entsteht, wenn wir ein Problem oder eine Zuspitzung, Einengung unserer Lage als Bedrohung empfinden und uns nicht dazu fähig fühlen, das Problem durch die gewohnten Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien zu lösen, wir schätzen unsere Handlungsmöglichkeiten und deren Erfolg als gering ein.
Ob wir eine Situation als bedrohlich empfinden hängt vor allem davon ab, was wir mit ihr verbinden. Wenn wir nun eine ähnliche Situation bereits erlebt haben und damit schmerzliche Gefühle wie z.B.: Angst, Hilflosigkeit und Trauer verbinden, damit nicht umgehen konnten und die Gefühle verdrängt haben, werden wir dieser Situation wieder mit diesen Gefühlen begegnen und die alten, nicht verarbeiteten Gefühl werden wahrscheinlich wieder aufgedeckt. Auch neue, unbekannte Situationen können als bedrohlich empfunden werde, wenn das Gefühl aufkommt, die Identität und Kompetenz zu verlieren und das eigene Leben nicht mehr selbstständig gestalten zu können, da Autonomie ein sehr wichtiger Wert unserer Gesellschaft ist.

Ob wir unsere Handlungsmöglichkeiten und deren Erfolg hoch einschätzen, liegt sicherlich auch an unserem Selbstbewusstsein, was auch durch unsere Vergangenheit geformt wird. Aber auch wenn wir ein hohes Selbstwertgefühl haben, schützt uns das nicht vor Krisen, denn wenn wir nicht fähig sind oder keine Handlungsmöglichkeiten haben und die Einengung und das Ausgeliefertsein spüren, sinkt dieses Selbstbewusstsein rapide.

Auf die Bedrohung unserer Existenz reagieren wir mit Angst. Angst entsteht immer dann, wenn ein wichtiger Wert oder sogar unser ganzes Wertesystem in Gefahr ist, zusammen zu brechen. Die extreme Angst wegen unseres höchsten Wertes, - unser Leben -, versetzt uns in Panik und hat eine lähmende Wirkung auf den Prozess der Krisenbewältigung. Wir fühlen uns ohnmächtig, das Problem anzugehen, hilflos, in einer auswegslosen Situation.
Wir stecken dann so tief in unserem Problem fest, dass wir es nicht mehr nüchtern von außen betrachten können und sind deswegen nicht in der Lage, die Sache praktisch in die Hand zu nehmen, solange die Panik uns beherrscht. Physischer Stress und große Anspannung gehen damit einher. Unser Leben verengt sich auf die Krise, was uns zwingt, unsere gesamte Energie auf das Problem zu verwenden und uns nur auf uns selbst zu konzentrieren.

Da Angst ein physisches Phänomen ist und sich auch auf unseren Körper auswirkt, kann es dazu kommen, dass wir eine psychosomatische Krankheit bekommen, deren Symptome dann zu einem Problem werden, welches uns die Krise nicht mehr verleugnen lässt, wenn wir sie zu verdrängen versucht haben. Die Krankheit „maskiert“ sozusagen das eigentliche Problem, wenn wir noch nicht bereit sind, uns dem zu zuwenden. Das schafft eine psychische Entlastung, macht es aber schwerer, in direkten Kontakt zu unserer Krise zu kommen, um sie zu bewältigen.


Da eine Krise sich dadurch auszeichnet, dass man sich in einer auswegslosen Situation befindet, in der man mit alten Bewältigungsstrategien keine Lösung des Problems erreicht, kann man sagen, dass eine Krise vor allem dann entsteht, wenn man für die Person anstehende Entwicklungsschritte nicht vollzieht und somit an alten, nicht mehr angemessenen Verhaltensweisen fest hält. Durch den empfundenen Druck durch die Zuspitzung der Situation, den man unterbinden will, entsteht die Chance, sich von diesen alten Strategien zu lösen und kreativ neue Lebensmöglichkeiten zu finden.

Belschner & Kaiser haben 1980 zur Analyse einer Krise ein Mehrebenenmodell aufgestellt, dass noch einmal sehr deutlich aufzeigt, wie dominant eine kritische Lebenssituation das gesamte Leben des Betroffenen einengt und bestimmt. Hierzu unterscheiden sie zwischen drei Ebenen. Jede Ebene wird nochmals hinsichtlich dreier Faktoren betrachtet:

1. zeitlich stabile Merkmale
2. beteiligte Situationen
3. Bewältigungsstrategien

Die erste Ebene, genannt Mikroebene, umfasst alle personellen Aspekte, bezieht sich also auf Situationen, in denen das Individuum direkt mit der Krise konfrontiert wird. Zeitlich stabile Merkmale sind in dieser Ebene Dispositionen, wie zum Beispiel Geschlecht, Intelligenz, Körpergröße und andere invariable Persönlichkeitsmerkmale. Als Beispiel für Situationen, in denen man als Person aufgrund einer bestimmten Rolle in einer Beziehung oder Gemeinschaft beteiligt ist, kann man die Rolle als Partner, Arbeitskollege, Freund oder Vater anführen. Bewältigungsstrategien sind in diesem Fall die Verhaltensweisen und Strategien, die das Individuum benutzt, um kritische Situationen in der Gemeinschaft zu handhaben.

Die zweite Ebene stellt die Mesoebene dar, die sich auf institutionelle Faktoren bezieht, die an der Entstehung einer Krise beteiligt sein können. Prüfungsordnungen im Ausbildungsbereich, Organisationsstrukturen oder Arbeitsschutzeinrichtungen zählen zu den zeitlich stabilen Merkmalen. Beispiele für Situationen an denen die Institutionen beteiligt sind, wären Streik oder Personalmangel. Verhaltensweisen wie Aussperrung, Verschärfung von Prüfungsordnungen oder Lohnerhöhung wären Bewältigungsstrategien, die von den Institutionen angewandt werden, die sich in einer bestimmten Situation befinden.

Die Makroebene bezieht sich auf die Gesellschaft oder Population sowie auf übergreifende ökologische Umstände. Zeitlich stabile Merkmale sind auf dieser Ebene zum Beispiel die Staatsform, die ethnische Zusammensetzung und geographische und klimatische Gegebenheiten. Beispiele für die Situationen, an denen diese Systeme beteiligt sind, wären politische und wirtschaftliche Krisen, Kriege und Naturkatastrophen. Geldentwertung, Aufrüstung, Mobilmachung oder Verhängung des Ausnahmezustandes zählen zu den Strategien, mit denen die Population, bzw. das System auf die Situationen reagiert.

Experten versuchen Krisensituationen und Problembewältigungen so genau wie möglich zu erforschen, vor allem um damit Strategien für die Prävention und die Bewältigung zu liefern. Dazu ist es unerlässlich, alle drei Ebenen zu analysieren, da diese miteinander interagieren und nur gemeinsam betrachtet die Komplexität einer Krise darstellen können. Wir selbst erleben unsere Krisen jedoch meist nur auf der personellen Mikroebene.

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